“Mache Dir Deine Erwartungen bewusst”
Interview mit Mariam Aboukerim
- Können Sie sich bitte kurz vorstellen und ein paar Worte zu Ihrer Person sagen?
Mein Name ist Mariam Aboukerim, ich bin 26 Jahre alt und arbeite seit einem Jahr als Erzieherin in Bremen. Zurzeit arbeite ich in der Flüchtlingshilfe in Bremen-Hemelingen, wo ich 33 unbegleitete geflüchtete Jugendliche betreue.
In meiner Arbeit habe ich bereits mit Systemsprengern gearbeitet, also mit Kindern, die schon in vielen Jugend-Hilfseinrichtungen waren gearbeitet. Wir haben ihnen einen geschützten Lebensraum geboten. Seit 2020 bin ich auch in der Schwarzen Community in Bremen aktiv. Wir haben eine politische Gruppe der Black Community Foundation (heute Blaktivity) gegründet und Demonstrationen organisiert. Ich habe auch an Projekten in Bremen teilgenommen, die sich mit dem Bremer Stadtbild und den strukturellen Überbleibseln der Kolonialzeit beschäftigen. Ich habe mit Kindern Kunst geschaffen, Menschen zusammengebracht und Workshops zu Themen wie Rassismus, kritisches Denken und Sprechen in der Gesellschaft gegeben.
- Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Beruf zu wählen?
Als Kind wollte ich gerne Schauspielerin werden, weil ich es spannend fand, in verschiedene Rollen zu schlüpfen und viele Menschen zu treffen. Ich glaube, dass sich dieser Wunsch in meiner Berufswahl fortgesetzt hat. Ich war selbst ein Hortkind. Da konnte ich immer wieder in Rollen schlüpfen und konnte ganz viele Sachen ausprobieren. Ich konnte auch malen, singen und tanzen. Ich war damals in vielen verschiedenen Gruppen. Ich war beim Leistungssport, im Gospelchor und habe früh mit dem Journaln angefangen. Mich viel mit mir selbst zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, habe ich alles im Hort gelernt. Ich hatte tolle Betreuer im Hort, die mich immer wieder ermutigt haben. Als ich dann 14 war, habe ich meinen Zukunftstag im Hort gemacht indem ich selber war und habe da dann einen Kunstwettbewerb kuratiert, wo niemand verlieren konnte. Das war mir sehr wichtig. Und dann habe ich gemerkt, dass es mir sehr viel Spaß macht und mir sehr viel Energie gibt, Menschen zusammenzubringen. Ich war von der Idee begeistert, dass jeder etwas Besonderes kann und dass jeder vom anderen etwas lernen kann. Das war das erste Mal, dass ich darüber nachgedacht habe, in der Sozialarbeit tätig zu werden.
- Hatten Sie als Frau und auf Grund Ihrer Hautfarbe Erfahrungen mit Ablehnung?
Ja, das habe ich sicherlich. Als Kind war mir das, glaube ich, nicht so bewusst. Ich habe natürlich relativ früh gemerkt, dass die Kinder, mit denen ich in einer Klasse war, anders aussahen als ich, oder ich sah anders aus als diese Kinder. Ich kann das jetzt im Nachhinein auf jeden Fall besser erfassen und verstehen, was mir jetzt als erwachsene Frau den Heilungsprozess erleichtert. Ich hatte dann irgendwann in der Grundschule das Glück, dass noch ein schwarzes Mädchen in unserer Klasse war. Und das hat mich auf jeden Fall sofort gestärkt. Im Nachhinein gab es die Schwierigkeit, dass ich dachte, ich bin anders und ich gehöre nicht dazu, weil ich anders aussehe. Als ich angefangen habe in der Geflüchteten Einrichtung zu arbeiten, bin ich natürlich mit einer gewissen Erwartungshaltung dorthin gegangen, auch was die Zusammenarbeit im Kollegium angeht. Und trotzdem habe ich Situationen erlebt, wo mir Kolleg*innen einfach in die Haare gefasst haben oder gesagt haben, dass ich nicht so emotional sein soll. Es ist schon schwierig, nicht direkt in den Stereotyp der “angry black woman” zu verfallen, wenn ich einfach mal sagen will, dass ich es übergriffig finde, wie die Leute mit mir reden und generell umgehen.
- War das negative Bild, das Sie von sich selbst hattest, das Ergebnis Ihrer eigenen Gedanken oder war es eine Reaktion auf das Verhalten der Menschen Ihnen gegenüber?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, es ist eine Art Wechselwirkung. Ich denke gerne an das Beispiel einer Pflanze, die man in sein Zimmer stellt und die nach ein paar Wochen nicht so richtig blüht. In diesem Fall sage ich der Pflanze nicht: „Warum willst du hier nicht blühen, warum funktioniert das nicht?“ Ich überprüfe, ob sie am richtigen Fenster steht, ob sie genügend Licht bekommt, ob ich sie oft genug gieße, ob sie die richtige Erde bekommt. Ich überlege, was ich tun kann, um der Pflanze zu helfen. Wenn ich mich in einem toxischen Umfeld befinde, in dem ich nicht wachsen kann, denke ich natürlich, dass es an mir liegt. Bis ich eine neue Position einnehmen kann, in der ich verstehe, dass es an meiner Umgebung liegt. Ich muss verstehen, dass es auch davon abhängt, mit wem ich mich umgebe und wessen Meinung ich für richtig halte. Bis zu einem gewissen Alter sind unsere Vorstellungen auch sehr stark von unseren Bezugspersonen geprägt.
- Haben Sie Personen als Vorbilder, die für Sie eine Quelle der Inspiration waren?
Mein Vorbild war lange Zeit Rihanna (lacht). Rückblickend kann ich sagen, dass ich nicht so viele greifbare schwarze Vorbilder hatte, vor allem keine weiblichen in Deutschland! Wenn ich an die Musik denke, die ich gehört habe, dann waren es hauptsächlich männliche Rapper oder schwarze Frauen wie Beyoncé oder Mariah Carey, die über ihre Emotionen sangen. Ich beschäftigte mich mit ihren Texten und entdeckte, dass man Emotionen in Worte fassen kann. Auf diese Weise habe ich auch gelernt, Englisch zu sprechen. Das hat mir persönlich sehr geholfen, mit meinen eigenen Gefühlen besser umzugehen und diese in eigenen Songtexten, die ich heute schreibe und performe, zu verarbeiten.
- Wie gehen Sie mit unterschiedlichen Perspektiven und Gefühlen in Ihrem Alltag und Ihrer Arbeit um?
Ich habe relativ früh gemerkt, dass es nicht darum geht, wie ich aussehe oder wie meine Freundinnen aussehen, sondern darum, was wir gemeinsam haben, was wir können oder was wir voneinander lernen können. Ich versuche mir immer wieder bewusst zu machen, dass ich in meiner Bubble bin und mit meinen Leuten über die Themen spreche, die mich bewegen. Und da gibt es natürlich eine gewisse Sensibilität. In meiner Arbeit versuche ich immer, Perspektiven zu beziehen und über meine Gefühle und Bedürfnisse in der jeweiligen Situation zu kommunizieren. Ich versuche, auf jemanden so einzugehen, dass ich mich frage, aus welchem Gefühl heraus handelt diese Person und warum muss sie mir jetzt sagen “Boah für eine schwarze Frau bist du echt schön!” oder „Wow, du sprichst ja echt gut Deutsch!”. Vielleicht meint es die Person ja gar nicht böse und auch wenn ich die gleiche Bemerkung oder Frage schon 100 Mal gehört habe. Mein Motto in solchen Situationen ist: Resilienz. Dennoch bemühe ich mich meinen Verletzungen durch alltägliche Mikroaggressionen durch mein Umfeld, Raum zu geben und einen Ausgleich für mich zu schaffen.
- Woher und wie haben Sie die Motivation und die Kraft zum Weitermachen trotz aller Schwierigkeiten?
Nach der Demonstrationswelle in 2020 war es auch für mich ein ganz großer Punkt, meinen Selbstwert aufrechtzuerhalten. Ich habe gemerkt, dass wenn ich Hilfe benötige, ich tendiere, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen anzunehmen. Deswegen bin ich äußerst kritisch geworden, mit wem ich mich über was austausche. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass das, womit ich mich umgebe, also sei es die Medien, die Freizeitaktivitäten oder die Menschen, Dinge sein müssen, die mir eine positive Energie geben sollen. Was mir auch hilft, ist mein Tagebuch zu schreiben. Ich schreibe schon seit meiner Kindheit. Ich habe auch verschiedene Techniken, die mir helfen, wie zum Beispiel Sachen auf einem Zettel aufschreiben und den Zettel verbrennen oder zerknüllen und wegschmeißen. Ich versuche auch zu erkennen, dass es auch schöne Sachen im Leben gibt und dass ich von ihnen umgeben bin. Das können einfache Dinge sein, wie eine gemütliche Atmosphäre, meine Lichterkette oder umgeben von der Natur, meinen Pflanzen zu sein. Sie erinnern mich daran, dass ich von Leben und Licht umgeben bin, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Ich gönne mir auch Ruhezeiten und kommuniziere das sehr klar.
- Wie können Sie sich und die Frauen ausländischer Herkunft in Ihrem Umfeld stärken?
Gerade durch 2020 und den Tod von George Floyd kam eine riesige Welle des Aktivismus auf uns alle zu und die Leute kamen plötzlich zusammen. Natürlich gab es auch vorher schon Bewegungen, wo Menschen zusammenkamen. Etwas, das ich sehr wichtig finde, weil ich es in den letzten Wochen gelernt habe, möchte ich vorwegsagen.
Kolorismus unter Schwarzen Menschen ist auf jeden Fall ein mächtiges Thema. Ich komme mit Frauen zusammen, die so aussehen wie ich oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Wenn wir zusammenkommen, geht es darum, dass wir uns gegenseitig stärken, aber vor allem auch darum, dass wir unsere Brüder und Schwestern, die Dark Skins sind, die benachteiligt sind oder die aus anderen marginalisierten Randgruppen kommen, mit einbeziehen. Denn, wenn wir das nicht tun, stehen wir immer wieder am Anfang.
In den letzten zwei Jahren bin ich mit Menschen über kreative Prozesse für die Aufklärungsarbeit zusammengekommen. Wir haben zum Beispiel an einem Kunstwettbewerb des Museums hier in Bremen teilgenommen, wo es darum ging zu zeigen, wie wir uns mit den kolonialen Kontinuitäten in Bremen fühlen, also mit den Straßennamen und mit den Sehenswürdigkeiten, die nach Kolonialherren benannt sind. Dann bin ich auf die Idee gekommen mit Leinwänden zu arbeiten und mit verschiedenen Techniken. In diesem Projekt habe ich mit meiner Kollegin Maimuna Sallah, die auch in der rassismuskritischen Bildungsarbeit in Bremen tätig ist zusammengearbeitet. Da habe ich wieder die verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten von verschiedenen Frauen in einem Projekt zusammengebracht.
- Haben Sie ein bestimmtes Buch, eine Zeitschrift, einen Podcast, ein Tool oder eine Technik, die Sie lieben und mit uns teilen können?
Ich lese gerne die Bücher Eckhart Tolle. Ich lese sein Buch „Leben und Jetzt“ sehr oft, weil es mich immer daran erinnert, dass, egal wie schwierig es ist, das zählt, was hier und jetzt passiert. Ich bastele auch Visionstafeln, die ich immer auf meinem Schreibtisch vor mir hängen habe.
- Welche Botschaft würden Sie der jungen Frau, die Sie vor einigen Jahren waren, mit auf den Weg geben, wenn Sie sie heute treffen würden?
Mache Dir Deine Erwartungen bewusst. Du hast viel für andere getan und tust es weiterhin, weil es Dich antreibt. Aber sei Dir immer bewusst, dass Du auch für Dich selbst einstehen musst. Das wird Dich Kraft kosten. Versuche also, die Balance zwischen Dir und Deinen Bedürfnissen und den Anliegen der Außenwelt zu halten. Denn Du bist die Hauptakteurin in Deinem Leben, die Person, die am längsten an Deiner Seite sein wird, die Person, um die Du Dich am meisten kümmern musst. Also sei gut zu Dir und nicht zu oft zu hart. You got this!